Der Sprung im Spiegel des Seins
Kapitel 1 – Ankunft im Caracol Escondido, Juli
Mit letzter Kraft zog Chiara ihren Koffer über die Schwelle. Dann ließ sie ihn los und blieb stehen. Unentschlossen. Zaudernd.
Hinter ihr schwang die Holztür, deren Fenster gespiegeltes Sonnenlicht über die Zimmerwände huschen ließ. Es wirkte gedämpft, bebend und veredelnd. Ein flatternder Glanz, der verriet, dass auch die Tür sich nicht entscheiden konnte; obgleich sie ihre Form schon vor langem gefunden hatte, außerhalb des Rahmens, in dieser feuchten Luft.
Beide zögerten einen Augenblick.
Dann setzten sie sich erneut in Bewegung.
Die Eingangstür stieß an das rostige Schloss und ein dumpfes Ächzen ertönte, das Chiara weitertrieb. Sie näherte sich der einen Zimmertür, die nur gemächlich den Blick direkt auf einen Spiegel freigab. Kaum gelang es Chiara jedoch, sich in ihm zu erfassen, denn ein hässlicher Sprung durchschnitt das Glas, von unten schräg nach oben rechts, ohne eine klare Linie zu ziehen. Er krümmte sich, scheinbar unvorhergesehen, durch das matte Kristall. Ein Geflecht aus Adern, gefächert, kleine Seitenarme bildend, von denen einige hauchdünn versickerten, Sackgassen nur. Andere fanden einen Umweg, um doch wieder heimzukehren aus der silbrigen Weite in den großen Fluss. Die Zeit stand einen Moment lang still, um dann vertrauensselig fortzufließen.
Gleich für den nächsten Tag plante Chiara den Kauf eines neuen Spiegels und sie freute sich, ihr neues Leben mit einer ersten Aufgabe füllen zu können. Dann wandte sie sich ab und wischte eine aufdringliche Haarsträhne aus der Stirn, denn erst einmal war sie nur müde. Die lange Reise und die allgemeine Erschöpfung der letzten Monate betäubten sie und ließen die Gedanken durcheinander tanzen. Unschöne Erinnerungen drängten sich auf: Einige Ereignisse hatten sich in Chiaras Leben überschlagen und ihre Kräfte übermäßig angestrengt. Andere waren quälend dahin gekrochen, hatten sich bis an ihre Reserven herangenagt und diese schließlich aufgefressen. Es würde schwer sein, zu verdrängen, was sie zu meiden gekommen war. Ihr fehlte jegliche Energie und am liebsten hätte sie geweint. Aber selbst dafür war sie im Moment zu müde.
Dem Spiegel den Rücken zugekehrt, lehnte sie sich an das mit bunten Blumen bemalte Waschbecken aus Keramik und schaute um sich. Im halbrunden Bad stand links eine Wand aus Glasbausteinen, die sich wie ein Schneckenhaus um den Duschraum formte. Rechts war das WC, darüber hing ein einfaches Regal. Fein säuberlich gefaltet lag ein Handtuch darauf.
Das würzige Aroma von altem Holz, Stroh und salzigem Meer lockte Chiara aus dem Bad ins Zimmer zurück. ‚Das hier wird also mein neues Zuhause sein’, dachte sie, während sie die Luft tief in ihre Lungen strömen ließ und den Kopf weit in den Nacken legte. Das kegelförmige Reetdach war von massivem Gebälk getragen, seine Spitze zur Lüftung offen gehalten und überschirmt. Rechts an der Wand befand sich ein Schreibtisch. Gleich links, in eine Nische gebaut, stand der Kleiderschrank. Daneben das Bett. Die Rundung des apricotfarbenen Mauerwerks ließ unzählige Schattierungen zu, deren dunkelste Flecken dem Braunton der schweren Holzmöbel ähnelten. Die hellsten waren leuchtend, wie das Moskitonetz. Es umfächelte das Bett und wurde dann und wann von der sanft durch den Türspalt wehenden Brise aufgeschwungen; als ob es einlud, zur Ruhe zu kommen. Anzukommen.
Chiara spürte die Geborgenheit des Raumes. Der mit Natursteinen belegte Boden wirkte solide und die breite Fensterfront gewährte ihr eine unendlich weite Aussicht. Über das Balkongeländer hinweg konnte Chiara sanfte Dünen und den Strand erblicken. Das Meer schillerte bis an den Horizont und letzte Sonnenstrahlen streichelten anmutig entlang der Wolkentürme.
Am Schreibtisch ließ Chiara ihren Rucksack von der Schulter gleiten. Dann nahm sie ihn doch wieder auf und legte ihn in Reichweite auf den Nachttisch. Die Reisedokumente wollte sie in ihrer Nähe wissen, denn die predigenden Worte ihrer Mutter klangen noch in ihren Ohren. „Besorge dir einen Reisegürtel. So einen mit eingenähten Geheimtaschen. Sicher ist sicher und du kannst doch gar nicht vorsichtig genug sein, wenn du in so einem fremden Land Urlaub machst.“
Chiara hatte sich gegen den Reisegürtel entschlossen, denn dies sollte kein Urlaub werden. Es war eher ein Entkommen, bei dem sie sich verbergen wollte, und derartigen Schutz konnte ihr kein Sicherheitsgürtel dieser Welt gewähren.
Sie trug den Rucksack erneut zum Stuhl am Tisch und betrachtete stirnrunzelnd einen Zettel, der aus der Seitentasche hing. Jetzt erinnerte sie sich wieder. Nur zufällig hatte sie ihn entdeckt, halb abgerissen, ans Treppengeländer geheftet.
Ciao Chiara, bienvenido en el ‚Caracol Escondido’! Dein Zimmer ist hier die Treppe rauf. I’ll see you. Milton
Seit dem Entdecken dieser eigenartigen Begrüßung musste eine Ewigkeit vergangen sein. Chiara schob das Papier in die Tasche zurück und schloss den Reißverschluss. Es war still um sie herum, fast bedrückend. Und doch war sie froh niemandem begegnet zu sein. Dann schlüpfte sie unter das Netz und setzte sich auf die Bettkante. ‚Sicher ist sicher’, hallte es abermals und sie fragte sich, wie Sicherheit auch Schutz verleihen könnte? ‚Das hat mir niemand beigebracht. Obwohl meine Kindheit so behütet war, stärkt mich die heile Welt von damals kaum.’
Eine Ahnung, nicht auf die wahren Herausforderungen des Lebens vorbereitet zu sein, drängte sich ihr schon lange auf. Dann war ihr engster Freund gestorben und seitdem schien nur noch der Tod sicher zu sein. Sonst nichts.
Chiara schluckte schwer und ließ sich zurück auf die weiche Matratze sinken. „Diese Gedanken sind schlecht“, versuchte sie, sie laut zu bändigen. Doch ein ihr wohlbekannter Schmerz hatte sich bereits aufgedrängt und setzte sich im Brustbein fest. Sie bedeckte die Stelle mit ihren Händen, so, wie sie es immer tat. „Ich muss die Gedanken an den Tod verscheuchen. Er gehört nicht in mein Leben… noch nicht. Ich bin doch erst 26. Er soll mich in Ruhe lassen.“
Der Tod freilich folgte seinem eigenen Zeitplan. Er war in Chiaras behütete Welt getreten, als er es für angebracht hielt, und nahm ihr jeden Halt. Sie war in Depressionen gestolpert, obwohl sie verzweifelt versucht hatte, ihre Schwermut aus dem Leben zu verbannen.
Erneut wischte Chiara die aufdringliche Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ab morgen werde ich mein Leben genießen“, nahm sie sich fest vor. „Hier auf Yukatan will ich die Dinge endlich wieder in die Hand nehmen.“
Sie streifte die Schuhe mit den Fußspitzen ab und zog ihre Jeans aus, die neben dem Bett zu Boden fiel. Fast verschüttete sie eine Spinne, die unbemerkt das Weite suchte. Fast unbemerkt. Nur der kleine Gecko an der Wand hatte das langbeinige Tier erspäht. Doch rechtzeitig suchte es Schutz unter dem Koffer, der noch verschlossen dort stand, wo er abgestellt, vergessen war.
Die Eingangstür lehnte an dem verrosteten Schloss. Ungesichert.
Chiara bemerkte es nicht. Sie bemerkte auch nicht, dass eine Mücke durch den offenen Spalt im Netz geflogen war und sich auf ihrem nackten Knöchel niederließ. Längst war sie in tiefen Schlaf gesunken.